Warum zu Hause ausziehen? Es ist bequemer und man spart auch noch Geld. Unser Autor Daniel ist da anderer Meinung: Wer im Hotel Mama wohnt, bleibt immer auch ein Stück weit Kind.
Es sind die kleinen Momente, in denen sich mein Kommilitone Sven verrät. Zum Beispiel dann, wenn wir in der Mensa rätseln, was die Fleischmasse auf unseren Tellern sein soll, und er seine kleine blaue Tupperdose aus der Tasche zieht. Darin: Zwei mit Liebe von Mami geschmierte Butterbrote. Sven ist Anfang 20, Student und wohnt noch zu Hause. Zum einen, weil er seine Familie mag, zum anderen, weil es so bequem ist. Das Gefühl, nach Ladenschluss in einen leeren Kühlschrank zu blicken, kennt er nicht. Das managt Mutti. Genauso wie Wäsche, Pausenbrot und Putzen. Wer ist freiwillig so blöd, diesen Service aufzugeben?
Zugegeben, mir fiel die Entscheidung sehr leicht. Wer in einer 20.000-Seelen-Kleinstadt in Nordhessen aufwächst, muss zum Studieren zwangsläufig ausziehen. Wobei selbst das kein Hindernis zu sein scheint. Unzählige ehemalige Mitschüler von mir pendelten während ihres Studiums zwischen ihrem Kinderzimmer und dem knapp 60 Kilometer entfernten Kassel. Sicher nicht nur aus Faulheit: Zu Hause zu wohnen ist mehr als allabendlich warmes Essen auf dem Tisch, das ist klar. Man bleibt Familie, Freunden und Fußballverein nah. Eine vertraute Umgebung kann etwas Schönes sein. Etwas, das einem Halt gibt. Nicht jeder träumte wie ich mit 14 Jahren davon, irgendwann die Provinz hinter sich zu lassen. Und wer in einer Großstadt wohnt, hat Uni, Shoppingmalls und Nightlife ohnehin vor der Haustür.
Und täglich grüsst das Murmeltier
Doch ein Auszug aus den heimischen vier Wänden ist nicht nur eine Frage von Heimatverbundenheit. Vielmehr geht es dabei um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Um Momente, in denen du ohne Mama oder Papa eine Lösung finden musst. Bei mir war das der Moment, als ich statt eines kleinen Lochs für einen Dübel eine CD-große Fläche in eine Altbauwand bohrte oder als ich herausfand, dass der Hinweis „Kann beim Waschen abfärben“ einen Hintergrund hat. Es sind Situationen, aus denen du sehr schnell zwei Dinge lernst: 1. Es gibt für fast alles eine Lösung. 2. Diese Lösung findest du meistens allein, bei Freunden oder zumindest bei Gute-Frage.net.
Sven kann bei diesen Problemen nicht mitreden. Es sind andere Dinge, die ihn belasten. Streit mit seiner Mutter oder dumme Kommentare seines Vaters, wenn er zu viel getrunken und/oder eine Bekanntschaft zur Übernachtung mitgebracht hat. So sehr ich ihn auch mag, in diesen Momenten bekomme ich das Gefühl, dass uns Welten trennen. Als würde ich mich auf eine Zeitreise in meine Pubertät begeben, wo das größte Problem noch die nervigen Eltern waren. Manchmal, das muss ich zugeben, bin ich darauf auch ein wenig neidisch. Denn Stress mit den Eltern ist ein ganz anderes Kaliber als der Papierkrieg mit seinem Vermieter über zu hohe Nebenkosten. Doch genau darum geht es im Leben: sich weiterzuentwickeln und für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn es manchmal schwerfällt. Und eine WG während des Studiums ist dafür ein verhältnismäßig behüteter Ort.
Irgendwann wird sich auch Sven aus seiner Zeitschleife befreien und erwachsen werden müssen. Hoffentlich, bevor er wie eine dieser befremdlichen Figuren aus dem RTL-Nachmittagsprogramm endet.